11.12.2019 BAG: Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall – Einheit des Verhinderungsfalles

Schließt sich im Anschluss an eine Arbeitsunfähigkeit eine „neue“ Arbeitsunfähigkeit nahtlos an, obliegt es dem Arbeitnehmer darzulegen und zu beweisen, dass die „erste“ Arbeitsunfähigkeit vollständig wiederhergestellt ist. Gelingt dieser Beweis nicht, ist von der „Einheit des Verhinderungsfalles“ auszugehen mit der Folge, dass Entgeltfortzahlung bei der zweiten Arbeitsunfähigkeit nicht geschuldet wird.

Der 5. Senat des Bundesarbeitsgerichts hat mit seiner Entscheidung lediglich verdeutlicht, was letztlich auch bisher galt. Folgt eine an sich vollkommen andere Krankheit auf die erste Krankheit, besteht die Gefahr, dass der gesamte Arbeitsunfähigkeitszeitraum als eine Einheit betrachtet wird. Im vorliegenden Fall mit der Folge, dass weder der Arbeitgeber Entgeltfortzahlung für die sechs Wochen nach Beginn der Zweiterkrankung, noch die Krankenkasse Krankengeld für diesen Zeitraum zahlte. Der Arbeitnehmerin war es nicht gelungen, den Beweis zu erbringen, dass ihre erste Arbeitsunfähigkeit (psychisches Leiden) geendet hat, bevor die nächste Arbeitsunfähigkeit (gynäkologische Operation) eintrat.
Der „Grundsatz des einheitlichen Versicherungsfalles“ besagt, dass aufeinanderfolgende Arbeitsunfähigkeiten auf derselben Grunderkrankung beruhen und damit als „eine Erkrankung“ anzusehen sind. Der betroffenen Arbeitnehmerin verbleibt der Weg gegen ihre Krankenkasse wegen des nicht gezahltem Krankengeldes vorzugehen.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 45/19 vom 11.12.2019 zu 5 AZR 505/18
Anmerkung: Frank Heinemann, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Lippstadt



28.11.2019 BAG: Unwirksame Versetzung führt zu Schadenersatz

Arbeitgeber sollten sich gut überlegen, ob Sie einen Arbeitnehmer versetzen. Ist die Versetzung unwirksam, drohen Schadenersatzansprüche. Der Fall: Ein Metallbaumeister wurde von 2014 Hessen nach Sachsen „versetzt“. Dieser wehrte sich gegen die Versetzung, kam der (rechtswidrigen) Weisung seines Arbeitgebers aber weiterhin nach.

Er forderte Fahrtkostenersatz in Höhe von 0,30 € / km für die Familienheimfachten mit seinem Privatfahrzeug und bekam damit, letztlich in dritter Instanz, Recht.

Während die Berufungsinstanz, das Hessische Landesarbeitsgericht (LAG) noch die Fahrtkosten nach der Trennungsgeldverordnung berechnete (alle zwei Wochen eine Familienheimfahrt) hat der 8. Senat des Bundesarbeitsgericht hier das Zeugen und Sachverständigen Entschädigungsgesetz herangezogen (jede Fahrt) und dem Kläger jeweils 0,30 € / gefahrenen Kilometer zugebilligt.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 42/19 zu Bundesarbeitsgericht 28.11.2019 – 8 AZR 125/18

Frank Heinemann, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Lippstadt



16.10.2019 BAG: Abweichung vom „equal-pay-Grundsatz“ nur bei vollständiger Inbezugnahme auf entsprechenden Tarifvertrag

Der 4. Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) stellt klar, dass, will der Arbeitnehmerüberlasser (Verleiher) seinen Arbeitnehmer anders, nämlich schlechter als den Stammarbeitnehmer (beim Entleiher) bezahlen, dieser die Tariföffnungsklausel im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) vollständig erfüllen muss. Das AÜG geht von dem Grundsatz aus, dass der verliehene Arbeitnehmer grundsätzlich das Arbeitsentgelt (eigentlich die Arbeitsbedingungen im Ganzen) zu erhalten hat, wie der Arbeitnehmer, dessen Stammarbeitsplatz er im Fremdunternehmen übernimmt (equal-pay / equal-treatment Grundsatz).
Von diesem Grundsatz kann der verleihende Arbeitgeber abweichen, wenn er im jeweiligen Geltungsbereich eines Arbeitnehmerüberlassungstarifvertrag, dessen Geltung mit dem Arbeitnehmer vereinbart, also die Tariföffnungsklausel aus dem AÜG nutzt. Voraussetzung ist allerdings, dass die Geltung des Tarifvertrages „als Ganzes“ vereinbart wird, andernfalls, so die Systematik des AÜG, ist die Ausnahme zur Regel (Grundsatz equal treatment / Gleichbehandlung) nicht eröffnet.

Hier muss man folgenden Gedanken zugrunde legen: Das AÜG dient dem Arbeitnehmerschutz und setzt als Mindeststandart die Arbeitsbedingungen des verdrängten Stammarbeitnehmers beim Entleiher. Besteht ein entsprechender Tarifvertrag, besteht die Möglichkeit, diesen durch Vereinbarung mit dem Arbeitnehmer in Bezug zu nehmen; also dessen Regelungen als verbindlich zu vereinbaren. Diese Regelungen sind zumeist schlechter als die Arbeitsbedingungen beim verdrängten Stammarbeitnehmer.
Letztlich verbleibt dann aber keine Möglichkeit noch weitere Vereinbarungen einzelvertraglich zu schließen, die dann noch wieder von der jeweiligen Regelung im Tarifvertrag zu Lasten des Arbeitnehmers abweichen. Eine solche Möglichkeit sieht die Tariföffnungsklausel im AÜG nicht vor.

Im vorliegenden Fall hat der Arbeitgeber aber nicht nur die Geltung eines entsprechenden Tarifvertrag (DGB / iGZ) im Arbeitsvertrag mit dem Arbeitnehmer vereinbart, sondern darüber hinaus auch abweichende, den Arbeitnehmer schlechter stellende Regelungen arbeitsvertraglich vereinbart (hier eine Ausschlussklausel, die darüber hinaus noch unwirksam ist). Damit ist die Ausnahme, Anwendung des entsprechenden Tarifvertragswerks wirksam vereinbaren, nicht erfüllt mit dem Ergebnis, dass wieder der Grundsatz „equal-treatment / Gleichbehandlung“, gilt.

Anm: In der Arbeitnehmerüberlassung ist peinlich genau auf sämtliche Formulierungen in den Arbeitsverträgen zu achten. Schon die Inbezugnahmeklausel, also die Vereinbarung, mit der das entsprechende Tarifwerk als geltende Regelung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer vereinbart wird, bedarf der sorgfältigen Formulierung. Der entschiedene Fall zeigt, dass hier seit der Einführung des Gleichbehandlungsgrundsatzes Anfang 2004, die Formulierung der hier verwendeten Arbeitsverträge sinnvollerweise in die Hand von darauf spezialisierten Anwälten gehört.

Quelle: Bundesarbeitsgericht Pressemitteilung Nr. 33/19 zu BAG 16.10.2019 – 4 AZR 66/18 –
Frank Heinemann, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Lippstadt



21.08.2019: BAG Vorbeschäftigung bei sachgrundloser Befristung (22 Jahre ist "sehr lang" zurückliegend)

Der 7. Senat hatte über einen Fall zu entscheiden, in dem ein Mitarbeiter nach 22 Jahren Unterbrechung erneut beim selben Arbeitgeber, allerdings ohne Sachgrund befristet, beschäftigt werden sollte. Gem. § 14 Abs. 2, S 2 TzBfG ist eine sachgrundlose Befristung nur möglich, sofern zuvor nicht bereits ein Arbeitsverhältnis zwischen denselben Vertragsparteien bestanden hat.

Nachdem das Bundesarbeitsgericht § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG dem Wortlaut nach behandelte („niemals zuvor“) erkannte der 7. Senat (06.04.2011 - 7 AZR 716/09 -) das eine Vorbeschäftigung, die drei Jahre zurücklag, unschädlich sei für eine neue sachgrundlose Befristung. Diese richterliche Rechtsfortbildung hatte das Bundesverfassungsgericht am 06.06.2018 (- 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14 -) eine klare Absage erteilt. Allerdings befand der 1. Senat des BVerG die Norm für verfassungswidrig, sofern sie den bedeuten würde, dass ein lebenslanges Folgebeschäftigungsverbot für den Arbeitnehmer bedeuten würde (Eingriff in die Berufsfreiheit Art. 12 Abs. 1 GG; zitierte Entscheidung RN 38). Eine verfassungskonforme Auslegung von § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG hat zu erfolgen.

Letztlich war also jetzt lediglich klar, dass „drei“ Jahre Unterbrechung aufgrund der Entscheidung des BVerfG zu wenig sind um die politisch motivierten und zu vertretenen Ziele (Verhinderung von Kettenbefristungen / Umgehung des generellen Befristungsverbots außerhalb der Erlaubnistatbestände etc.) zu erreichen.

Mit der jetzigen Entscheidung des 7. Senats (BAG) ist, wenig überraschend, klargestellt, dass 22 Jahre Unterbrechung auf jeden ausreichen um die „Vorbeschäftigung“ nicht als Hindernis zu einer erneuten sachgrundlosen Befristung ins Feld zu führen.

Mit der jetzigen Entscheidung des 7. Senats (BAG) ist, wenig überraschend, klargestellt, dass 22 Jahre Unterbrechung auf jeden ausreichen um die „Vorbeschäftigung“ nicht als Hindernis zu einer erneuten sachgrundlosen Befristung ins Feld zu führen. Demnach sind 22 Jahre als „sehr lang“ zurückliegende Beschäftigung zu werten.
Demgegenüber hat der gleiche Senat in seiner Entscheidung vom 20.03.2019 – 7AZR 409/19 eine Vorbeschäftigung von acht Jahren und neun Monaten nicht als „sehr lang“ zurückliegende Beschäftigung gewertet.

Demnach gilt derzeit folgendes: Eine Unterbrechung bis zu drei Jahren ist auf jeden Fall als „verhindernde Vorbeschäftigung“ zu werten. Eine Vorbeschäftigung, die acht Jahre und neun Monate zurückliegt (BAG 20.03.2019 – 7 AZR 409/16) liegt „nicht sehr lang“ zurück und ist ebenfalls beschäftigungsschädlich. Das gilt auch für eine Vorbeschäftigung die 15 Jahre zurückliegt (BAG 17.04.2019 - 7 AZR 323/17). Ab 22 Jahren ist die Vorbeschäftigung aufgrund der durch die Rechtsprechung des BVerfG notwendig gewordene verfassungskonformen Auslegung des § 14 Abs. 2 S. 2 TzBfG unschädlich.
Bleibt letztlich das freundliche „fischen im Trüben“ hinsichtlich des Zeitraumes zwischen 15 Jahren und 22 Jahren Vorbeschäftigung. Hier wird man die weitere Rechtsprechung des BAG und ggf. des danach angerufenen BVerfG abwarten müssen.
Quelle: Pressemitteilung Nr. 29/19 vom 21.08.2019 zu - 7 AZR 452/17 –
Anmerkungen: Frank Heinemann, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Lippstadt



05.07.2019 Saarländischer Verfassungsgerichtshof: Geschwindigkeitsmessung mit Trafistar S 350 nicht verwertbar (im Saarland) 

Der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes gab einem Temposünder Recht, der sich letztlich ausschließlich mit dem Argument verteidigte, die Grundsätze eines „fairen Verfahrens“ seien verletzt, da bei dem eingesetzten Messgerät die „Rohmessdaten“ nicht dauerhaft gespeichert würden und damit eine echte unabhängige Überprüfung des Messergebnisses im Nachhinein nicht möglich sei.

Im Vorfeld war das geschehen, was standardmäßig in der gesamten Bundesrepublik passiert. Viele der „Starenkästen“ sind mittlerweile digitalisiert. Bei der hier betroffenen Traffistar S 350 handelt es sich um die zumeist runden etwa 2,5 m hohen grau-schwarzen Säulen. Die Messgeräte werden einer sogenannten Bauartprüfung durch die Physikalisch Technische Bundesanstalt – im Folgenden PTB - unterzogen. Sobald diese Prüfung erfolgreich abgeschlossen ist, wird eine Bauartzulassung erteilt und das Messgerät ist für den sogenannten „standardisierten Messbetrieb“ zugelassen. Die Gerichte argumentieren, dass dieses standardisierte Messverfahren letztlich einem vorweggenommenen Sachverständigengutachten entspricht und daher auch die Messergebnisse „richtig“ seien.
Dem ständigen Ruf der Verteidiger, dass diese ohne Offenlegung der „Rohmessdaten“ (im Sinne der Messergebnisse der Sensoren) keine Möglichkeit hätten, die Richtigkeit der Messungen nachzuvollziehen, wurde von allen beteiligten Gerichten, den Messgerätherstellern, sowie der PTB vehement und mit den abstrusesten Argumenten entgegengetreten.
Die Messgeräte liefern den Verteidigern lediglich die, aufgrund einer nicht bekannten Rechnung aus den Rohmessdaten berechnete Ergebnisse, die dann die Richtigkeit der Messung belegen sollen.
Dagegen argumentierte der Unterzeichner beispielsweise damit, dass bei einem gerichtlichen Sachverständigengutachten in einer Bausache bei dem Vergleichspreise eingeholt werden um einen „ortsüblichen Preis“ festzulegen, auch niemand auf die Idee kommen würde, die Frage zu verwehren, aufgrund welcher Datenerhebungen (eingeholten Angebote) der Sachverständige denn zu den von ihm angenommenen Preisen gekommen sei.

Das Saarländische Verfassungsgericht wählt folgenden Vergleich:
Urteil Seite 20 2. Absatz:

„Niemand würde deshalb bezweifeln, dass die Ergebnisse einer Blutentnahme oder einer DNA-Probe nur dann Grundlage einer gerichtlichen Entscheidung sein dürfen, wenn die Blutprobe oder die DNA-Daten, die gleichfalls Gegenstand eines standardisierten Messverfahrens sind, (…) noch zu einer die Messung unabhängig nachvollziehbaren Überprüfung zur Verfügung stehen.“

Die Herleitung der Verfassungswidrigkeit wird an folgendem Zitat sichtbar:
Urteil Seite 23 2. Absatz:

„Solange eine Messung aber nicht durch die Bereitstellung der Datensätze (…) einer Nachprüfung durch die Verteidigung des Betroffenen zugänglich ist, würde der Verweis auf die Verlässlichkeit der Konformitätsprüfung (Anm. Messung und Zulassungsverfahren) – die im Übrigen keiner öffentlichen Transparenz und keiner Kontrolle der von der Verwendung der Messgeräte Betroffenen unterliegt – schlicht bedeuten, dass der Rechtssuchende auf Gedeih und Verderb der amtlichen Bestätigung der Zuverlässigkeit eines elektronischen Systems und der es steuernden Algorithmen ausgeliefert wären.

Das ist nach der Überzeugung des Verfassungsgerichtshofs weder bei Geschwindigkeitsmessungen noch in anderen Fällen standardisierter Messverfahren (…) rechtstaatlich hinnehmbar. Auch in den genannten Beispielsfällen käme niemand auf den Gedanken, dass die untersuchten gesicherten Substanzen sofort nach ihrer Analyse vernichtet werden könnten und nachträglichen Zweifeln eines Beschuldigten an der Richtigkeit der Feststellungen nicht nachgegangen werden müsste, weil das Ergebnis der standardisierten Untersuchung in aller Regel zutreffend sei.“

Anlässlich dieser klaren Worte bedarf es letztlich keiner weiteren Bewertung oder Übersetzung.
Das Gericht setzt sich auch mit den abstrusen Argumenten der beteiligten auseinander. Diese Argumente lauten wie folgt:

Für die Gerichte argumentiert die Präsidentin des saarländischen OLG: Die Betroffenen seien gehalten, konkrete Anhaltspunkte für die Fehlerhaftigkeit der jeweiligen Messung zu liefern, so folge man der Rechtsprechung des BGH. Dabei wird wohlweislich auf verschiedenste Anhaltspunkte verwiesen, die auf eine Fehlmessung hinweisen könnten. Letztlich ein relativ peinlicher und ignoranter Vortrag wenn man bedenkt, dass natürlich die anderen von ihr benannten Anhaltspunkte jeweils für sich genommen eine Möglichkeit sind, die Messung anzugreifen, jedoch die Frage offen lassen, ob die Messung überhaupt nachträglich überprüft werden könne, worum es letztendlich ging.

Die PTB weist darauf hin, dass, selbst wenn alle Rohmessdaten gespeichert würden, die konkrete unabhängige nachträgliche Überprüfung des geeichten Messwerts nicht möglich sei. Dem einigermaßen mit dem Eichgesetz vertrauten Leser stellen sich anlässlich einer solchen Argumentation die Nackenhaare auf. Wenn man dann aber liest, wie die PTB die Messgeräte für die Bauartzulassung prüft, wird das bereits eingetretene mulmige Gefühl noch verstärkt. Da werden ca. 100 Stunden auf einem Messstand (metrologisch rückgeführten Messplatz) quasi verschiedenste Wetterbedingungen simuliert und dann die vom Messgerät ausgerechneten Werte mit den tatsächlichen Werten verglichen.
Anlässlich der Diskussion um Messstände und das softwaretechnisch gesteuerte Verhalten von darauf befindlichen Dieselfahrzeugen hinsichtlich ihres Schadstoffausstoßes ist eine solche Argumentation nicht unbedingt als vertrauensbildende Maßnahme geeignet.
Der Argumentation tritt das Gericht mit einem unabhängigen Sachverständigen entgegen und klärt auf, dass natürlich bei Vorliegen der Rohmessdaten eine nachtägliche Kontrolle der errechneten Werte des Messgeräts möglich sei. Wen wundert das? Dieser Argumentation tritt die PTB dann auch nicht mehr entgegen.

Der Hersteller, hier die Fa. Jenoptik für das Gerät Trafistar S 350, verweist auf die fehlende Notwendigkeit der Aufzeichnung von Rohdaten, denn messrechtlich genüge die Eichung, die Konformitätsprüfung sowie die Möglichkeit einer „nachträglichen Befundprüfung“. Die Frage der messrechtlichen Zulässigkeit hat leider überhaupt keinen Bezug zur hier streitgegenständlichen Frage eine für den Betroffenen „fairen Verfahrens“. Die nachträgliche Befundprüfung ist dann auch wieder so ein „Unwort“. Im Ergebnis wird sich nachträglich ohne gespeicherte (Roh-) Messdaten kaum nachvollziehen lassen, ob der Befund (die Berechnung wertes des des Gerätes) denn mit der Wirklichkeit übereinstimmt.
Letztlich, so der Sachverständige, sei nicht auszuschließen, dass derzeit nicht bekannte Faktoren die Messungen zukünftig beeinflussen können. Als Beispiel führt der Sachverständige an, dass Wechselwirkungen mit den immer komplexer werdenden technischen Systemen im Auto und am Wegesrand, die sich ständig veränderten, nicht ausgeschlossen werden könnten. Lediglich anhand der Rohmessdaten ließen sich Hinweise auf derartige Störungen identifizieren.

Das Gericht weist richtigerweise darauf hin, dass an seine Entscheidung lediglich die saarländischen Gerichte gebunden sind. E s bleibt daher die spannende Frage, ob die anderen Obergerichte ihre – aus unserer Sicht bisher ignorierende Haltung zu der Frage der Notwendigkeit des Vorhaltens der Rohdaten (der tatsächlichen Messdaten) aufgeben und sich der letztlich rein verfassungsmäßig gebotenen und richtigen Auffassung des hier erkennenden Gerichts aschließen.
Sehr wahrscheinlich werden die Hersteller der Messgeräte den Weg gehen (müssen) die Rohmessdaten wieder mit abspeichern zu müssen. Warum diese letztlich in den letzten Versionen der Software mit der die Messgeräte betrieben wurden herausgenommen wurde, ist sowieso nur nachverständlich, wenn man unterstellt, dass hier etwas verborgen werden soll.
Wir weisend darauf hin, dass diese Interpretation und die zugegeben etwas sarkastischen Anmerkungen, vom Unterzeichner stammen. In der Vergangenheit war die Argumentation mit den fehlenden Rohdaten vor den Gerichten etwa das, was man sich bei Don Quichote und den Windmühlenflügeln vorzustellen vermag.
Quelle: Urteil des Saarländischen Verfassungsgerichtshof 2019-Lv 7/17 vom 05.07.2019
Frank Heinemann, Rechtsanwalt, Lippstadt



04.06.2019 BSG: Honorarärzte sind im Krankenhaus regelmäßig sozialversicherungspflichtig

Die ärztliche Tätigkeit als Honorararzt ist nicht zwingend wegen der besonderen Qualität der ärztlichen Heilkunde als Dienst „höherer Art“ anzusehen und damit automatisch kein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis. Diese Entscheidung traf der 12. Senat des Bundessozialgerichts – im Folgenden BSG - am Beispiel einer als Honorarärztin eingesetzten, überwiegend im OP arbeitenden Anästhesistin.

Mit dieser Grundentscheidung muss daher die gleiche Abgrenzung vorgenommen werden, wie in allen andern Fremdpersonaleinsätzen (§ 7 Abs. 1 SGB IV, § 84 HGB zur Selbständigkeit). Ausschlaggebend sind die Kriterien Weisungsgebundenheit und der Eingliederung in die Arbeitsorganisation des „Dienstherrn“. Weitere Kriterien sind die Nutzung personeller oder sachlicher Ressourcen.

In einem Krankenhaus sei der Organisationsgrad in der Regel so ausgeprägt, dass keinerlei Raum für „unternehmerische Entscheidungen“ der eingesetzten „Honorar“-ärzte mehr verbleibe. Im hier entschiedenen Fall war die Anästhesistin vorwiegend im OP innerhalb eines Teams unter der Leitung eines Verantwortlichen eingesetzt. Irgendwelchen Raum für Unternehmerische Entscheidungen der Anästhesistin seien schlicht nicht gegeben. Etwas anderes könne auch nicht für eine Tätigkeit als Stationsarzt/-ärztin gelten. Auch hier könne die eingesetzte Kraft nur innerhalb der organisatorischen Strukturen des Krankenhauses und unter Nutzung der personellen wie sachlichen Ressourcen agieren.

Der Senat wies auch darauf hin, dass die (hohe) Honorierung innerhalb der Gesamtwürdigung der Tätigkeit keinerlei ausschlaggebende Bedeutung zugemessen werden könne. Zudem sei auch der Fachärztemangel zwar ein Problem, könne aber die Sozialrechtlichen Regelungen zur Versicherungs- und Beitragspflicht nicht aushebeln.

Anm.: Die Tätigkeit als Honorararzt innerhalb eines (beitragsfreien) Dienstvertrages ist mit diesem Urteil zumindest in Krankenhäusern ein Riegel vorgeschoben. Die sozialrechtlichen Versicherungs- und Beitragspflichten können nicht durch Vertragsgestaltung zu Lasten der Versicherungsgemeinschaft aufgehoben werden. Krankenhäuser werden sich auf das für sie teurere Modell der Arbeitnehmerüberlassung (Zeitarbeit) zurückziehen, wenn es ihnen weiterhin nicht gelingt, Ärzte für eine Festanstellung zu gewinnen. In diesem Fall besteht von vornherein ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis zum Verleiher, lediglich der Einsatz erfolgt im Krankenhaus. Ärzte, die bisher selbständig (oder vermittelt) auf Honorarbasis gearbeitet haben, werden ihr Geschäftsmodell überdenken müssen.

Quelle: Bundessozialgericht Pressemitteilungen Nr. 21/2019 vom 04.06.2019 zu B 12 R 11/18 als Leitfall).
Frank Heinemann, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Lippstadt (Bearbeitungsstand 12.06.2019)



14.05.2019 EuGH: Arbeitszeiten müssen gemessen werden!

Die Spanische Gewerkschaft (CCOO) wollte legte beim dortigen Nationalen Gerichtshof (Audencia Nationale) festgestellt wissen, dass die Deutsche Bank SAE verpflichtet sei, ein System zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit einzurichten. In Spanien sei der Arbeitgeber verpflichtet, den Gewerkschaften Angabe über die monatlich geleisteten Überstunden zu übermitteln. Ferner sei die Kontrolle von Arbeitnehmerschutzvorschriften (Höchstarbeitszeiten / Pausen / Ruhezeiten) ohne ein solches System nicht möglich. Die Verpflichtung zur Einführung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung ergebe sich sowohl aus nationalen Vorschriften, als auch aus der Charta der Grundrechte der EU (Charta).

Der Arbeitgeber beharrt auf dem Standpunkt, dass nach der obergerichtlichen Rechtsprechung Spaniens lediglich eine Verpflichtung zur Führung eines Überstundenverzeichnisses und der Übermittlung der Zahl der geleisteten Überstunden zum jeweiligen Monatsende besteht.

Der EuGH sieht einen Verstoß sowohl gegen die Charta (im Lichte der Charta), als auch gegen die Arbeitszeitrichtlinie (RL 2003/88 des Europäischen Parlament und des Rates vom 04.11.2003 ABL 2003, L 299, S. 9) und die Richtlinie über die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeitnehmer bei der Arbeit (RL 89/291/EWG des Rates v. 12.06.1989 (ABl. 1989, L 183, S. 1).

Neben den vorbenannten Standpunkten problematisiert er die Problematik, dass es ohne ein derartiges System zur Arbeitszeiterfassung den Arbeitnehmern erschwert würde, Entgeltansprüche wegen Mehrarbeit durchzusetzen. Ohne ein System der Messung der individuellen Arbeitszeit eines jeden Arbeitnehmers und dessen Dokumentation die seien die Vorgaben zum Arbeitnehmerschutz (Gesundheit / Arbeitssicherheit) nicht gewährleistet. Ein jedes Mitgliedsland habe sicherzustellen, dass ein derartiges System bestehe. Zudem liefere nur ein solches System beweissichere Daten zur Prüfung der Einhaltung des Arbeitnehmerschutzes.

Anmerkung: Arbeitgeber sollten sich im Lichte dieser Entscheidung vor Augen führen, dass Modelle wie „Vertrauensarbeitszeit“, bei denen eine Arbeitszeiterfassung tatsächlich nicht mehr erfolgt, wohl künftig problematisch sein werden. Auch im Bereich „Home Office“ etc. wird sich die Frage stellen, was denn konkret als Arbeitszeit aufzufassen ist. So stellt sich z. B. die Frage, ob die Beantwortung einer (natürlich dienstlichen) Email zu nachtschlafender Zeit bei erfolgten Tagespensum als Arbeitszeit zu werten ist (Problem Ruhezeit). Auch die kreativen Köpfe, denen letztlich vom Chef die Arbeitszeitgestaltung vollkommen in die eigenen Hände gelegt wird, müssen sich mit dem Thema Arbeitszeit auseinandersetzen. Der Gesetzgeber ist gefordert. Dieser hat zunächst ein Gutachten in Auftrag gegeben…..

Quelle: Pressemitteilung des EuGH Nr. 61/19 vom 14.05.2019 (Urteil: C-55/18 CCOO / Deutsche Bank SAE)
Anmerkungen: Frank Heinemann, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Lippstadt



20.02.2019 BAG: Kündigung des Chefarztes eines kath. Krankenhauses wegen Wiederverheiratung

Das 2. Senat des BAG hat entschieden, dass ein Chefarzt eines katholischen Krankenhauses wegen seiner Wiederheirat nicht gekündigt werden kann. Der „Loyalitätsverstoß“ keine den Glaubenssätzen der katholischen Kirche wiedersprechende (2.) Ehe einzugehen, weise keinen inneren Zusammenhang zur Tätigkeit des Chefarztes auf.

Der Fall:
Ein Chefarzt eines katholischen Krankenhauses war nach katholischem Ritus verheiratet und heiratete nach Scheidung erneut standesamtlich (2008). Der Arbeitgeber sah darin einem „schwerwiegenden Loyalitätsverstoß“ und sprach die Kündigung zum 30.09.2009 aus. Gegen diese Kündigung wendet sich der Chefarzt mit der Argumentation, dass er gegenüber nicht der katholischen Kirche angehörenden leitenden Angestellten ohne sachlichen Grund ungleich behandelt wurde (Verstoß gegen §§ 7 Abs. 2, § 1 4. Alt. AGG Merkmal: Religion).

Der Instanzenzug:
Die Vorinstanzen (Arbeitsgericht Düsseldorf 30.07.2009 – 6 Ca 2377/09 - und Landesarbeitsgericht Düsseldorf 01.07.2010 – 5 Sa 996/09) hatten der Klage jeweils stattgegeben. Der erkennende Senat des BAG hatte den EuGH ein Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt, über welches der EuGH am 11.09.2018 (- C-68/17 -) entschieden hat. Der Arbeitgeber scheiterte letztlich nunmehr auch in der Revision vor dem BAG.

Die Begründung:
Das deutsche Arbeitsrecht sieht eine Ungleichbehandlung aus Gründen der „Religion“ (§ 1 Alt. 4 AGG) gem. § 7 Abs. 2 AGG als unwirksam an. Das deutsche AGG setzt die europäische Gleichbehandlungsrichtlinie (2000/78/EU vom 27.11.2000) um. Im Vorabentscheidungsverfahren stellt der EuGH klar, dass die Charta der Grundrechte der EU jede Art der Diskriminierung wegen der Religion (…) als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts zwingenden Charakter hat und schon für sich allein dem Einzelnen ein Recht verleiht, (…) diese als solches geltend zu machen.

Das deutsche Recht eröffnet Religionsgemeinschaften das Recht in ihrem Bereich eigenständige Regelungen zu fassen (sog. „Dritter Weg“). Eine derartige Regelung stellt auch § 9 Abs. 2 AGG dar. Der Senat hatte daher zunächst im Vorabentscheidungsverfahren zu klären, ob eine Rechtfertigung der Ungleichbehandlung über § 9 Abs. 2 AGG gegeben sein könnte. Der EuGH lehnt dies im vorliegenden Fall mit der Begründung ab, dass die Stellung als Chefarzt letztlich für „die Bekundung des zugrundeliegenden Ethos“ kaum relevant sein wird.
Wie vom EuGH aufgegeben, prüft der 2. Senat des BAG nunmehr diese Frage und stellt fest, dass die Loyalitätspflicht, keine nach dem Glaubensverständnis und der Rechtsordnung der katholischen Kirche ungültige Ehe zu schließen

„im Hinblick auf die Art der Tätigkeiten des Klägers und die Umstände ihrer Ausübung keine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung“

darstellt.

Anmerkung:
Ein langer Weg für eine im Ergebnis richtige Entscheidung. Da, wo der Glaube und die Religion keinen, oder nur einen geringen Zusammenhang zur eigentlichen Tätigkeit des Arbeitnehmers aufweist, kann die Berufung auf den „dritten Weg“ nicht dazu führen, dass letztlich Arbeitnehmerschutzrecht ausgehebelt wird. Der Kläger verfährt hier äußerst geschickt, indem er den Weg über die Gleichbehandlung aller Arbeitnehmer wählt, wohl wissen, dass es bei seinem Arbeitgeber in leitenden Positionen auch nicht katholische Arbeitnehmer gibt, die demnach wegen fehlender Loyalitätsverpflichtung primär bei gleichem „außerdienstlichen“ Verhaltens auch nicht mit Sanktionen zu rechnen haben. So war die Ungleichbehandlung vorprogrammiert. Der verfolgte Weg war dann letztlich konsequent und zeigt, mit welcher Vehemenz die katholische Kirche an ihrem Sonderstatus festzuhalten gedenkt.

Im Ergebnis sagt der EuGH: Wenn wir eine Tätigkeit haben, die in der Nähe der Glaubenssätze vollzogen wird (Priester und ähnliches) dann muss der Sonderweg weiterhin gelten, andernfalls wäre die grundrechtlich geschützte Position der Religionsfreiheit nicht gewährleistet. Welche Distanz diese Nähe zu den Glaubenssätzen aufweisen muss, ist durch das nationale Gericht, hier das BAG, aufzuklären. Der 2. Senat kommt hier trennscharf zu der Erkenntnis: Chefarzt ist nicht Priester. Die Tätigkeit des Arztes kommt mit den Glaubenssätzen kaum in Berührung. Daher ist die Ungleichbehandlung (Kündigung) nicht gerechtfertigt und die Kündigung im Ergebnis nicht gerechtfertigt.

Wirtschaftlich ist der Prozess für den Arbeitgeber ein Desaster. Die Kündigung ist im Ergebnis unwirksam, mit der Folge, dass auch das Arbeitsverhältnis über den Kündigungszeitpunkt fortbesteht und durch den Arbeitgeber entsprechende Entgeltzahlungen für die gesamte Prozessdauer zu leisten sind.
Quelle: Bundesarbeitsgericht Pressemitteilung Nr. 10/19 vom 20.02.2019 zu – 2 AZR 746/14
Frank Heinemann, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Lippstadt



19.02.2019 BAG: Verfall von Urlaubsansprüchen / Arbeitgeberobliegenheiten

… und wieder setzt sich europäische Rechtsprechung auf nationale Rechtsprechung durch. Der 9. Senat des Bundesarbeitsgerichts hat festgestellt (ganz auf der Linie der Entscheidung EuGH 06.11.2018 Max-Planck-Gesellschaft - C-684/16 -, hier bereits besprochen), dass ein Verfall von Urlaubsansprüchen nunmehr davon abhängt, dass der Arbeitgeber zuvor den Arbeitnehmer -rechtzeitig, umfassend, inhaltlich richtig und verständlich darüber aufgeklärt hat, dass und wie sein Urlaub verfällt, wenn er ihn nicht beantragt.
Der Fall: Ein Wissenschaftler, beschäftigt seit 08/2001 bis zum 31.12.2013 beantragte nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses Entgelt für insgesamt 51 nicht genommene Urlaubstage aus den Jahren 2012 und 2013. Ein Antrag auf Urlaubsgewährung war nie gestellt worden.

Die Vorinstanzen (Arbeitsgericht München 13.11.2014 - 13 Ca 7172/14 -, Landesarbeitsgericht München 06.05.2015 – 8 Sa 982/14) hatten der Klage (auf Entgelt) stattgegeben, das LAG hatte angenommen, der Urlaub sei zwar verfallen (gem. § 7 Abs. 3 Bundesurlaubsgesetz, im Folgenden BUrlG), dem Kläger sei aber Schadenersatz in Form von Ersatzurlaub zu gewähren gewesen, der sich bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses in einen Abgeltungsanspruch umgewandelt hätte. Das LAG argumentiert im Wesentlichen, dass der Arbeitnehmer seiner Verpflichtung, den Urlaub zu gewähren nicht nachgekommen sei.

Der 9. Senat des BAG sieht keine generelle Verpflichtung des Arbeitgebers von sich aus dem Arbeitnehmer Urlaub zu gewähren. Entsprechend der Rechtsprechung des EuGH sei der Arbeitnehmer aber letztlich vollumfänglich, verständlich, und inhaltlich richtig und unter Hinweis auf den möglichen Verfall durch den Arbeitgeber aufzuklären. Wenn er, trotz umfassender Aufklärung den Urlaub dennoch nicht beantragt, so verfalle dieser (nach wie vor).

Bisher galt: Der Urlaubsanspruch verfällt am Jahresende, wenn er durch den Arbeitnehmer nicht beantragt wurde, § 7 Abs. 3 BUrlG. Eine Übertragung in das Folgejahr (max. bis zum 31.03.) ist nur in begründeten Fällen möglich. Urlaub ist – nach hiesigem Verständnis – nach wie vor in erster Linie ein Anspruch auf bezahlte Freizeit zur Erholung. Nunmehr, unter Beachtung der Arbeitszeitrichtlinie (Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG), wird der Arbeitgeber zwar nicht gezwungen, von sich aus Urlaub zu gewähren (so das LAG) ihm obliegt aber die Initiativlast zur Verwirklichung des Urlaubsanspruchs des Arbeitnehmers. Bezugnehmend auf die Richtlinie konkretisierte der EuGH, dass der Arbeitgeber gehalten sei „konkret und in völliger Transparenz dafür zu sorgen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub z nehmen, indem er ihn – erforderlichenfalls förmlich – auffordert, dies zu tun“.
Richtlinienkonform könne Urlaub daher nur verfallen, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor konkret aufgefordert hat, den Urlaub zu nehmen, und ihm ganz deutlich klar und rechtzeitig darauf hingewiesen hat, dass der Urlaub mit Ablauf des Urlaubsjahres (oder des richtigen Übertragungszeitraumes) anderenfalls erlösche.
Der Rechtsstreit wurde an die Berufungsinstanz zurück verwiesen um genau diese Frage aufzuklären.
Anmerkung: Da der Rechtsstreit aus dem Jahre 2014 stammt, in welchem noch niemand ansatzweise darüber nachdachte, dass es ggf. eine Aufklärungspflicht des Arbeitgebers hinsichtlich des möglichen Verfalls des Urlaubs geben könnte, ist das zu erwartende Ergebnis nicht schwer zu orakeln. Der Kläger wird seinen Anspruch letztlich durchsetzen können. Der 9. Senat hat letztlich in dieser Entscheidung klar gemacht, dass die Arbeitszeitrichtlinie zwar nicht vom Arbeitgeber fordert, dem Arbeitnehmer „Zwangs-/Urlaub“ zu gewähren, letztlich wird jedoch eine umfassende Aufklärung aller Arbeitnehmer gefordert.
In den Konzernen wird, wahrscheinlich mit der September- oder Oktoberabrechnung eine entsprechende Information an den Arbeitnehmer versandt werden. In vielen kleinen und mittelständischen Betrieben wird es seine Zeit brauchen, bis sich diese Erkenntnis durchsetzt.
Quelle: Bundesarbeitsgericht Pressemitteilung Nr. 9/19 zum Urteil vom 19.02.2019 - 9 AZR 541/15 -
Frank Heinemann, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Lippstadt



07.02.2019 BAG: Kein Widerruf von Aufhebungsverträgen / Gebot fairen Verhandelns

Der 6. Senat des Bundesarbeitsgerichts stellt fest, dass arbeitsrechtliche Aufhebungsverträge trotz der Tatsache, dass es sich bei Arbeitnehmern um Verbraucher handelt, nicht an den Maßstäben des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB- Recht / Haustürwiderruf) zu messen sei. Aufhebungsverträge unterlägen nach dem Willen des Gesetzgebers nicht dem Anwendungsbereich der §§ 312 ff BGB.

Anm.
Bisher liegt nur die Pressemitteilung vor; zur Begründung kann also noch keine Aussage getroffen werden. Der Fall: Eine Reinigungskraft war arbeitsunfähig erkrankt und wird zu Hause durch den Arbeitgeber aufgesucht und dort zum Abschluss eines Aufhebungsvertrages „bewogen“. Die Arbeitnehmerin berief sich neben der Anfechtung auch drauf, den Aufhebungsvertrag widerrufen zu haben (AGB-Recht / Haustürgeschäft).

Erstinstanzlich hat das Arbeitsgericht Celle die Klage abgewiesen. Auf die Berufung hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachen die Berufung zurückgewiesen, u. a. auch mit der Begründung, dass ein Widerrufrecht (§§ 312, 312g, 355 BGB) nicht bestehe. Dies hat der 6. Senat nun bestätigt. Die Sache wurde dennoch zurückverwiesen, da das LAG aus Sicht des BAG nicht genügend aufgeklärt habe, ob nicht ggf. eine Drucksituation zu einer „überstürzten“ Handlung der Arbeitnehmerin geführt hätte (sog. „Kündigung a la Einzelhandel“). Der Grundsatz einer fairen Verhandlung gebiete eine gesonderte Betrachtung insbesondere aufgrund der Tatsache, dass die Arbeitnehmerin arbeitsunfähig erkrankt sei.

Quelle: BAG Pressemitteilung Nr. 6/19 vom 07.02.2019 zu BAG 07.02.2019 – 6 AZR 75/18 – Vorinstanz LAG Niedersachsen 07.11.2017 – 10 Sa 1159/16 –
Frank Heinemann, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Lippstadt, Bearbeitungsstand 13.02.2019



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