13.12.2023 BAG: Erschütterung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen

Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (umgangssprachlich gelber Schein im Folgenden AU) ist geeignet den Beweis zu erbringen, dass eine Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers vorliegt. Dieser Beweiswert kann erschüttert sein, sofern eine Koinzidenz (Deckungsgleichheit) der Zeiträume der Arbeitsunfähigkeit mit der noch offenen Kündigungsfrist besteht.
Dies gelte auch, wenn der arbeitsunfähige Arbeitnehmer nach erhalt der Kündigung eine oder mehrere Folgebescheinigungen vorlegt, die passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfassen und er unmittelbar daran eine neue Beschäftigung aufnimmt.

Im streitgegenständlichen Fall war der Kläger sei März 2021 bei der Beklagten als Helfer beschäftigt. Er legte am 02.05.2023 eine AU für den Zeitraum 02.05. – 06.05. vor. Der Arbeitgeber kündigte mit Schreiben vom 02.05.2023. Die Kündigung ging am 03.05.2023 zu.
Der Arbeitnehmer legte zwei Folgebescheinigungen vom 06.05. – 20.05. und vom 20.05. – 31.05.2023 vor. Am 01.06.2023 nahm er „arbeitsfähig“ eine andere Beschäftigung auf.
Die Arbeitgeberin verweigerte die Entgeltfortzahlung mit der Begründung, der Beweiswert der vorgelegten AU sei erschüttert, da die Zeiträume passgenau auf den Ablauf der Kündigungsfrist ausgestellt waren. Dem widersprach der Kläger und argumentierte, dass er bereits vor Zugang der Kündigung arbeitsunfähig gewesen sei.
Die Vorinstanzen (ArbG Hildesheim 26.10.2022 – 2 Ca 190/22 - / LAG Niedersachsen 08.03.2023 – 8 Sa 859/22 - ) gaben der auf Entgeltfortzahlung gerichteten Entgeltklage statt.

Der Fünfte Senat des BAG differenziert – zu Recht – zwischen der ersten AU und den beiden Folge-AU. Die erste Arbeitsunfähigkeit begann vor Zugang der Kündigung. Ihr Beweiswert war daher nicht anzuzweifeln. Für die Zeit vom 01.05. – 01.06.2023 war eindeutig Entgeltfortzahlung geschuldet.
Anders verhält es sich mit den beiden AU vom 06.05.2023 und vom 20.05.2023. Die Tatsache, dass die Zeiten genau auf die verbleibende Kündigungsfrist passen und im Anschluss direkt die Arbeitsfähigkeit beim neuen Arbeitgeber gegeben ist, geben die grundsätzliche Möglichkeit, der bisherigen Rechtsprechung zu folgen, dass der Beweiswert erschüttert sein könnte. Dies führt nach Ansicht des Senats dazu, das nunmehr der Arbeitnehmer den Beweis für die im Mai bestandene Arbeitsunfähigkeit auf andere Weise als durch Vorlage der ärztlichen Atteste zu führen hat.

Die Vorinstanzen haben, aus Ihrer Sicht konsequent, diese Frage nicht thematisiert. Aus diesem Grunde wird der Rechtsstreit an die Vorinstanz zur Aufklärung zurückverwiesen.

Anmerkung:
Es hat ja schon sehr lange gedauert, bis der Fünfte Senat im Jahr 2021 (08.09.2021 – 5 AZR 149/21 -) überhaupt auf die Idee gekommen ist, dass eine passgenau attestierte AU gegebenenfalls nicht der beste Beweis für die AU sein könnte. Letztlich sollte man aber nicht vergessen. Die AU ist ein Attest, welcher ein Arzt ausstellt. Der Arbeitnehmer kann nach wie vor den Beweis seiner Arbeitsunfähigkeit führen, indem er den behandelnden Arzt als Zeugen benennt. Dieser wird sich bedanken. Letztlich wird ihm aber nichts anderes übrigbleiben, als die damals ausgestellte Arbeitsunfähigkeit im Zeugenstand zu bejahen. Der Fünfte Senat müht sich hier m. E. vergebens an der Unsitte der Krankschreibung im Anschluss an eine Kündigung ab.

Quelle: BAG-Pressemitteilung 45/23 zu BAG 13.12.2023 – 5 AZR 137/23 –
Rechtsanwalt Frank Heinemann, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Lippstadt

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